Gibt es eine verfassungsrechtliche Gesetzesbefolgungspflicht des Einzelnen?

Ein alter Streit ist es, ob die Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit nach Art. 4 Abs. 1, 2 GG unter einem einfachen Gesetzesvorbehalt steht oder nur durch Güter von Verfassungsrang einschränkbar ist.

Die einen sagen so, die anderen so. Dieser Streit lässt sich in den einschlägigen Kommentaren nachlesen, soll uns also hier nicht weiter interessieren. Ein Augenmerk soll jedoch auf das Argument gerichtet werden, das zugunsten der Einschränkbarkeit durch einen einfachen Gesetzesvorbehalt vorgebracht wird. Exemplarisch sei hierfür die Entscheidung des BVerwG vom 23.11.2000 - 3 C 40.99 - angeführt. Darin heißt es wie folgt:

„Nach Auffassung des erkennenden Senats ergibt sich die Legitimation des Gesetzgebers für die in § 4a TierSchG getroffene Regelung aus Art. 140 GG i.V. mit Art. 136 I WRV. Nach der zuletzt genannten Bestimmung, die durch Art. 140 GG zum Bestandteil des Grundgesetzes geworden ist, werden die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten durch die Ausübung der Religionsfreiheit weder bedingt noch beschränkt. Damit wird die Ausübung der Religionsfreiheit, wie sie in Art. 4 II GG gewährleistet ist, ausdrücklich unter einen staatsbürgerlichen Pflichtenvorbehalt gestellt. Zu den staatsbürgerlichen Pflichten zählt zu allererst die Gesetzesbefolgungspflicht (vgl. Muckel, in: BerlKomm zum GG, Art. 4 Rdnr. 47).“

Unabhängig davon, dass diese Auffassung des BVerwG mithilfe von historischen und systematischen Argumenten entkräftet werden kann, stellt sich die Frage, ob überhaupt der Ausgangspunkt der Argumentation des BVerwG zutrifft: Folgt aus dem staatsbürgerlichen Pflichtenvorbehalt eine Gesetzesbefolgungspflicht des Einzelnen? Gibt es eine staatsbürgerliche, d.h. verfassungsrechtliche, Gesetzesbefolgungspflicht? Anders gewendet: Kann ich Verfassungspatriot sein und dennoch bei "Rot" über die Ampel laufen? - Die Antwort hierauf ist nicht so eindeutig, wie sie zunächst scheint. Das Grundgesetz bindet in Art. 1 Abs. 3 GG zunächst nur die Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung an die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht. Ähnlich sieht es in Art. 20 Abs. 3 GG aus; danach sind die Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung an Gesetz und Recht gebunden.

Eine ausdrückliche Pflicht des Einzelnen zur Gesetzesbefolgung findet sich im Grundgesetz damit nicht. Das Grundgesetz lebt diesbezüglich vielmehr von einer Voraussetzung - der Gesetzesbefolgung des Einzelnen -, die es selbst nicht als Pflicht statuiert. Der These des BVerwG im Urteil vom 23.11.2000, aus dem staatsbürgerlichen Pflichtenvorbehalt in Art. 136 Abs. 1 WRV folge eine Gesetzesbefolgungspflicht des Einzelnen, ist daher zu widersprechen.

Somit offenbart sich auch die Weisheit meines ersten Lehrers für Verfassungsrecht in Greifswald, der mir - bei "Rot" über die Ampel gehend - lachend zurief:

„Ich bin Verfassungsrechtler! Was interessiert mich das einfache Recht?“

Dr.Fiete Kalscheuer